Im Kanton Neuenburg erhält mittlerweile fast jeder zehnte Bub ADHS-Medikamente, die Restschweiz holt mit gewaltigem Tempo auf. Neue Zahlen zeigen das Ausmass.
In Kürze:
- Rund 4 Prozent aller Schweizer Schulkinder erhalten mittlerweile ADHS-Medikamente via Grundversicherung verschrieben. Hinzu kommen IV-Fälle.
- Im Kanton Neuenburg bekommen bereits 18 Prozent der Buben zwischen 11 und 15 Jahren Psychostimulanzien.
- Das Tessin ist mit ADHS-Medikamenten deutlich zurückhaltender als andere Kantone
Die Menge an verschriebenen ADHS-Medikamenten in der Schweiz steigt und steigt. Neueste Zahlen des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan) von 2023 zeigen, dass der rasante Anstieg auch nach der Pandemie weitergeht. In öffentlichen Auftritten vermitteln spezialisierte Ärztinnen und Ärzte den Eindruck, dass alles in geordneten Bahnen verläuft.
Man ortet die Ursache für den Anstieg in einer Unterversorgung der Mädchen und Erwachsenen, die lange unter dem Radar liefen und nun vermehrt die Diagnose ADHS erhalten. Allerdings: Buben und junge Männer erhalten nicht nur nach wie vor am meisten Ritalin und ähnliche Präparate, sie sind auch am stärksten vom Anstieg betroffen.
Es gäbe durchaus Anlass, die aktuelle Entwicklung als Signal zu sehen, dass etwas aus dem Ruder läuft. Es gibt in der Schweiz zwar nur Zahlen zu Verschreibungen in der Gesamtbevölkerung und nicht dazu, wie viele Kinder und Jugendliche tatsächlich mit ADHS-Medikamenten behandelt werden. Doch eine grobe Schätzung (siehe Box) zeigt, dass die Zahl der Verschreibungen von Psychostimulanzien bei Kindern und Jugendlichen inzwischen ein Ausmass angenommen hat, das noch vor wenigen Jahren Grund zur Sorge gewesen wäre.
Mehr als jeder zehnte Junge zwischen 11 und 15 nimmt ADHS-Medikamente
Geschätzt dürften in der Schweiz inzwischen rund 4 Prozent der Kinder im Schulalter ADHS-Medikamente erhalten. Bei den Buben wären es 5,5 Prozent, wobei in der am stärksten behandelten Altersgruppe der 11- bis 15-Jährigen der Anteil doppelt so hoch ist: 11 Prozent.
Diese Zahlen sind keine exakten Angaben, vermitteln jedoch eine ungefähre Grössenordnung der abgegebenen ADHS-Medikamente, die über die Grundversicherung abgerechnet wurden. Hinzu kommt ein nicht zu vernachlässigender Anteil in der Grössenordnung von einem Prozent Betroffener, deren Medikamente die Invalidenversicherung (IV) bezahlt.
«Ich finde es fragwürdig, wenn Ärztinnen und Ärzte heute immer noch von einer Unterversorgung mit Psychostimulanzien sprechen», sagt Soziologe Pascal Rudin, der sich seit vielen Jahren wissenschaftlich mit der Entwicklungsstörung beschäftigt. «Die Häufigkeit, mit der ADHS-Medikamente heute eingesetzt werden, liegt deutlich über dem, was die Ärzteschaft während Jahrzehnten als sinnvoll bezeichnet hat.» Nehme man diese Einschätzung als Massstab, müsse von einer massiven Überversorgung ausgegangen werden.
Lange ging man davon aus, dass bei rund der Hälfte der diagnostizierten ADHS-Fälle eine Behandlung mit Ritalin oder ähnlichen Medikamenten sinnvoll ist. Tatsächlich scheint heute praktisch jeder diagnostizierte Fall auch eine medikamentöse Therapie nach sich zu ziehen. Zumindest muss man davon ausgehen, wenn man die erwartete Häufigkeit von ADHS in der Bevölkerung zum Massstab nimmt.
Laut einem Konsenspapier des ADHS-Weltverbands von 2021 liegt diese bei 5,9 Prozent der Jugendlichen. Das hätten Studien nicht nur aus Europa, sondern rund um den Globus ergeben, schreibt das internationale Autorenteam. Dazu gehört aus der Schweiz auch Susanne Walitza, Direktorin der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie an der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich. Fachleute würden ADHS zwar häufiger diagnostizieren, doch die Entwicklungsstörung sei «in den letzten drei Jahrzehnten nicht häufiger geworden», heisst es weiter.
Behandeln Neuenburger Ärzte ADHS besser?
Wohin sich die Schweiz bewegt, zeigt der Kanton Neuenburg. Dieser ist seit vielen Jahren Spitzenreiter, was die Verschreibung von ADHS-Medikamenten bei Kindern und Jugendlichen betrifft. Der grob geschätzte Anteil behandelter Kinder im Schulalter liegt demnach seit Jahren über 6 Prozent und bewegt sich inzwischen auf 7 Prozent zu.
Bei den Buben im Kanton Neuenburg erhalten sogar über 9 Prozent ADHS-Medikamente, im Alter von 11 bis 15 Jahren sind es 18 Prozent – ohne die IV-Abrechnungen. Vor zehn Jahren lagen die Zahlen im Schweizer Durchschnitt halb so hoch wie in Neuenburg. Seit 2021 holt die Restschweiz jedoch mit gewaltigem Tempo auf.
Im Kanton Neuenburg sieht man sich dabei als Vorreiter in Sachen ADHS-Therapie: «Unserer Ansicht nach ist diese höhere Rate einfach auf eine bessere Erkennung der Krankheit und eine höhere Akzeptanz der Medikamente zurückzuführen», schreibt das Gesundheitsamt auf Anfrage. Grund für die höheren Verschreibungszahlen seien engagierte Kinderärzte, die bereits ab Ende der 1990er-Jahre damit begonnen hätten, Eltern, Lehrer und andere Ärzte über ADHS aufzuklären. «Hinweise auf eine missbräuchliche Verschreibungspraxis liegen nicht vor.»
Dies bestätigt eine Fachperson, die unter anderem Mitglied der Expertengruppe ADHS ist, die das Bundesamt für Gesundheit (BAG) berät. Im Gespräch teilte sie die Einschätzung, dass im Kanton Neuenburg die Versorgung mit ADHS-Medikamenten besser ist als in der restlichen Schweiz.
Anhand der verfügbaren Zahlen ist nicht erkennbar, ob die ADHS-Häufigkeit in den letzten Jahren zugenommen hat oder ausschliesslich vermehrt mit Psychostimulanzien behandelt wird. Pascal Rudin hebt hervor, dass die Häufigkeit von ADHS in der Bevölkerung keine feste Grösse ist.
«Die Entwicklungsstörung ist als Spektrums-Erkrankung definiert, das heisst, es gibt keine harte Grenze, ab der eine Diagnose gestellt oder mit Psychostimulanzien behandelt werden soll», sagt der Soziologe, der ebenfalls Mitglied der Expertengruppe ADHS ist. Beim heutigen Einsatz von Psychostimulanzien sei unklar, wo die Grenze zwischen Behandlung und einer allenfalls vermeintlichen Leistungssteigerung (Neuroenhancement) liege.
Im Tessin ist ADHS «kaum ein Thema»
Darauf deuten auch die Unterschiede zwischen den Schweizer Kantonen. Das Tessin ist dabei das langjährige Schlusslicht. In der Altersgruppe bis 18 erhalten derzeit rund achtmal weniger Kinder Psychostimulanzien als beim Spitzenreiter Neuenburg. Im Vergleich zum Schweizer Durchschnitt liegt das Tessin seit Jahren rund fünfmal tiefer.
Trotz dieser frappanten Unterschiede: Auch im Tessin ist man der Meinung, dass alles in bester Ordnung ist. «Ich denke nicht, dass wir zu wenig ADHS-Medikamente verschreiben», sagt Kantonsapotheker Giovan-Maria Zanini, der dies bereits vor zehn Jahren untersucht hat.
Er räumt ein: «Sicher gibt es auch den Einfluss Italiens, wo Ritalin und ähnliche Medikamente sehr umstritten sind.» Jedoch gebe es kaum Lehrpersonen, die mehr Behandlungen bei Kindern fordern würden. Und auch bei der Ärzteschaft sei ADHS kaum ein Thema, so Zanini.
So wurde der Anteil behandelter Kinder geschätzt
Das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) veröffentlicht, wie häufig ADHS-Medikamente jedes Jahr in der Grundversicherung abgerechnet werden. Deklariert ist dies jeweils als Standard-Tagesdosis einer erwachsenen Person (Defined Daily Doses, DDD) pro 1000 Einwohner. Da die Dosierung von ADHS-Medikamenten stark variiert und bei Kindern in der Regel tiefer ist, lässt sich daraus nicht ablesen, wie viele Personen tatsächlich betroffen sind. Mithilfe einer Studie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) von 2014 lässt sich die Grössenordnung jedoch grob abschätzen.
Demnach bekamen 2012 im Kanton Zürich 2,6 Prozent der Kinder im Schulalter (7 bis 15 Jahre) Ritalin und ähnliche Medikamente. Daraus lässt sich mithilfe der Obsan-Daten in einem Dreisatz die ungefähre Grössenordnung berechnen, wie häufig Kinder und Jugendliche im Jahr 2023 Psychostimulanzien verschrieben erhalten haben: Zürich 4,4 Prozent, Neuenburg 6,7 Prozent, Tessin 0,8 Prozent, die ganze Schweiz 3,9 Prozent.
Gemäss den Obsan-Daten erhielten 2023 Buben 2,4-mal mehr ADHS-Medikamente als Mädchen. Das bedeutet, dass Erstere schweizweit 5,5 Prozent und in Neuenburg sogar 9,3 Prozent ADHS-Medikamente bekommen, Mädchen 2,5 Prozent respektive 3,8 Prozent.
Die Berechnung ist rudimentär, da die Daten der ZHAW-Studie und von Obsan unterschiedliche Zeiträume und Altersgruppen abdecken und allfällige Unterschiede zwischen den Kantonen nicht berücksichtigt werden. Angesichts fehlender besserer Zahlen liefert sie dennoch eine Idee davon, wie viele Kinder und Jugendliche in der Schweiz ADHS-Medikamente nehmen. (fes)